Buchtip: Denken wird überschätzt. Warum unser Gehirn die Leere liebt

von Niels Bierbaumer und Jörg Zittlau

Ein spannendes und verständliches Buch über das Gehirn, von einem deutschen Hirnforscher geschrieben, ist schon eine Seltenheit. Und dann auch noch der ironisch provozierende Titel „Denken wird überschätzt“. Bierbaumer nimmt sich eines Themas an, das in der Forschung überhaupt erst seit wenigen Jahren Beachtung findet: was passiert in einem Zustand der Leere im Kopf, d.h. im Zustand geistiger Nicht-Aktivität. Mitte der 90er Jahre wurde zufällig entdeckt, dass die Gehirnaktivität bei den Teilnehmern eines wissenschaftlichen Versuchs nicht abschaltete, wenn zwischen den Versuchen eine Pause eintrat, dass das Gehirn vielmehr genauso aktiv arbeitete, nur eben auf andere Weise und in anderen Gehirnarealen. Man nannte diesen Zustand „Default Mode Network“, was soviel bedeutet wie Grundeinstellung. Es handle sich dabei nicht wirklich um einen Zustand bewusstseinsmäßiger Leere sondern um einen Zustand, den man mit einem Computer vergleichen könne, dem der Zugang zum WLAN gekappt worden sei. Die neue Erkenntnis war: auch ohne gezieltes Denken arbeitet das Gehirn auf Hochtouren.

Bierbaumer untersucht und thematisiert in diesem Buch nun die unterschiedlichen Ebenen von Leere. Am Anfang steht die Feststellung, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die meisten Menschen große Angst vor der inneren Leere haben, die sie davon abhält die positiven Aspekte des Leerseins zu erfahren. Bierbaumer verbindet Hirnforschung, Psychologie und Alltagserfahrung und entdeckt überall das Glück der Leere, die durch den Ausstieg aus der Dominanz des Denkens entsteht.

Und man erfährt höchst erstaunliche Fakten. Zum Beispiel, dass Meditieren nicht gleich Meditieren ist. Vergleichende Untersuchungen an langjährig meditierenden Zen-Mönchen aus Japan haben gezeigt, dass sich deren Gehirne in der Meditation in völlig ungewöhnlichen Aktivierungszuständen befinden, während die untersuchten Gehirne von Praktizierenden der Transzendentalen Meditation sehr viel Ähnlichkeit mit Gehirnen im Dämmerschlaf aufweisen. Wiederum ähnelte die Gehirnaktivität betender christlicher Nonnen sehr stark denen der Zen-Mönche, obwohl die Zen-Mönche ihren Zustand eher als Verlust des abgrenzbaren Ichs beschreiben und die Nonnen von einem „Gefühl der Nähe zu Gott“ sprechen. Offenbar ist die unterschiedliche Interpretation der erlebten transzendenten Zustände weit weniger von Bedeutung als die Tiefe der meditativen Erfahrung.

Um was geht es noch in diesem Buch: um die philosophische Beschäftigung mit Leere; um die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit von Leerezuständen des Gehirns; um das, was im Floating-Tank unter weitgehendem Ausschluss von sinnlichen Informationen im Gehirn passiert; um die Krankheiten der Leere (Demenz, ADHS, Depression); um die gemeinsamen Aspekte von Sex, Religion und Epilepsie und um einiges andere mehr.

Das Buch endet wie ein Zen-Koan, nämlich mit der Beschreibung einer grundlegenden Paradoxie:Um das Ziel der Leere zu erreichen, „kann man diverse Wege beschreiten: Hirnstimulation und Meditation, marschieren im Gleichschritt und Blick aufs Meer, Grölen im Fußballstadion und Schweben im Floating-Tank, Orgasmen und Sprünge aus dem Flugzeug. Wir haben einige dieser Wege beschrieben und versucht, die beteiligten Prozesse im menschlichen Gehirn aufzuspüren. Der Leser möge dies als Anregung für eigene Versuche verstehen. Doch zu viel erwarten sollte er nicht: weder Aha-Erlebnis noch Erleuchtung, weder Ekstase noch absolutes Bewusstsein, weder freiheit noch Erlösung. All das würde nur wieder das Willenssytem in seinem Gehirn aktivieren und die Leere vertreiben. Die Leere lässt sich nicht wollen. Im Gegenteil! Je energischer man nach ihr greift, umso mehr entgleitet sie. Was wir stattdessen tun können? Uns so verhalten, dass die Leere von selbst zu uns kommt. Denn sie öffnet sich nur für den, der nichts von ihr erhofft.“

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