Die moderne medizinische und Forschung hat Beachtliches geleistet. Sie hat die Anatomie begründet, was dem Wortsinn nach so viel bedeutet wie „zerschneiden“ und „zergliedern“. Wir kennen heute den Aufbau des menschlichen Organismus bis in kleinste Details: von der Funktion der Organsysteme über die Zusammensetzung der Organe bis hin zur nervlichen und hormonellen Steuerung dieses Organismus, ja selbst die Struktur der Moleküle und der Aufbau von Zelle und Erbgut sind keine Geheimnisse mehr.
Das Problem dabei ist, dass man durch diesen immer genauer werdenden Blick auf die Details das große Ganze, den Menschen als Wesen, Ausdruck und Form aus dem Blick verliert. Die anatomische Zergliederung spiegelt sich in der Zergliederung der Facharztbereiche. So gibt es zum Beispiel Spezialisten für orthopädische Probleme, die sich nur begrenzt um neurologische Probleme kümmern und Neurologen, die keine allzu große Ahnung vom Bewegungsapparat haben. Und Ärzte für Innere Medizin kümmern sich eben um die inneren Organe. Vor Jahren hatte ich einen Arzt für Innere Medizin wegen Rückenschmerzen in Behandlung. Im Gespräch kam ich auf die Verbindung von Organproblemen mit den Nervenaustritten der jeweils organversorgenden Nerven. Er schaute mich mit großen Augen an. So etwas hatte er noch nie gehört und in seiner täglichen Arbeit mit Organerkrankungen spielte das folglich auch überhaupt keine Rolle. Dieser Mann hatte mit Sicherheit wesentlich mehr medizinische Detailkenntnisse als ich, aber er war nicht in der Lage in komplexeren Zusammenhängen zu denken. Und die Vorstellung, dass emotionale Probleme etwas mit Rückenschmerzen zu tun haben könnten war ihm auch völlig fremd. Dabei musste er mit dauernd Sitzungen absagen, weil er nie wusste, wann er in der nächsten Woche Dienst haben wird und dadurch unter massivstem Streß stand.
Die Anatomie ist unendlich wertvoll, aber sie ist nur die Hälfte! Nach der Zergliederung in Einzelteile sollte man das Ganze in einem zweiten Schritt auch wieder Zusammen-Denken. Und daran mangelt es zumindest der klassischen Schulmedizin erheblich.
Eine wunderbare andere Perspektive des Zusammen-Denkens und Zusammen-Sehens ist die Morphologie (griechisch morphe = Gestalt), der Blick auf die menschliche Gestaltwerdung und das wandelbare Gestalt-Sein des Organismus.
Ursprünglich stammt die Idee der Morphologie von Johann Wolfgang von Goethe. In seinen naturwissenschaftlichen Schriften (Zur Morphologie, 1817) führt er dazu folgendes aus: „Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen dergestalt gewahr werden, dass wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können…Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.“
Und dagegen setzt Goethe die lebendige Anschauung und das Gewahrsein der gewordenen und sich ununterbrochen verändernden Ganzheit des Menschen und alles anderen Lebendigen. In der Nachfolge Rudolf Steiners, dem großen Verehrer Goethes und Begründers der Anthroposophie entwickelte sich eine Betachtungsweise des Menschen, die den trefflichen Namen „Dynamische Morphologie“ trägt, was soviel heißt wie Gestaltbildung in ununterbrochener Bewegung. Die dynamische Morphologie ist zu einer der Grundlagen der craniosacralen Biodynamik geworden.
Was dynamische Morphologie bedeutet möchte ich in meinem nächsten Blogbeitrag näher ausführen.
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