Vor einigen Jahren, bei der Vorbereitung eines Embryologie-Seminars, fiel mir ein kleines Büchlein in die Hände, gemeinsam verfasst von dem Hirnforscher Gerald Hüther und der Hebamme Inge Krens. Der Titel: „Das Geheimnis der ersten 9 Monate. Unsere frühesten Prägungen.“ Dieses wunderbare und leicht lesbare Buch möchte ich jedem empfehlen, der sich für die Entwicklung des Menschen im Mutterleib interessiert. In diesem Buch erwähnen die Verfasser zwei Grundprinzipien, die ein Kind m Mutterleib lernt. Das eine ist jeden Tag über sich hinauszuwachsen, von der befruchteten Eizelle bis zum formgewordenen Menschen. Das andere ist die tiefe symbiotische Verbundenheit mit der Mutter. Über die Nabelschnur bekommt das wachsende neue Leben alles, was es braucht und gleichzeitig werden über diese Verbindung die Ausscheidungsstoffe abtransportiert. Der mütterliche Organismus stellt alles zur Verfügung was zum Wachstum benötigt wird.
Natürlich kann es in diesem Entwicklungsprozess zu Problemen kommen, die äußerer oder innerer Natur sein können, dennoch sind diese beiden Lernerfahrungen wahrscheinlich für alle menschlichen Embryonen ziemlich ähnlich: Wachstum und Verbundenheit. Und da es sich um absolut elementare Bereiche handelt, spielen diese Themen letztlich auch beim Erwachsenen eine große Rolle. Ein zufriedenes, gelingendes Leben hat immer eine irgendwie geartete Balance zwischen Wachstum, Entwicklung, Selbsterfahrung einerseits und der Verbundenheit mit anderen Menschen andererseits.
Was passiert, wenn diese beiden Prinzipien ins Ungleichgewicht geraten? Was passiert, wenn ein Mensch auf den Trip kommt, dass für ihn nichts zählt, außer seiner Selbsterfahrung und dem, was er unter persönlichem ich-bezogenen Wachstum versteht? Wahrscheinlich steht es um seine zwischenmenschlichen Beziehungen nicht allzu gut. Es kann gut sein, dass er mit dieser Ich-zentrierten Haltung nach und nach von seinen Mitmenschen isoliert und als einsamer Sputnik seine selbstbezogenen Bahnen zieht. Und was passiert, wenn der Fokus auf Verbundenheit ein Leben völlig dominiert. Dann ist alles darauf ausgerichtet, dass Beziehungen aufrechterhalten werden, egal wie gut oder schlecht sie sind. Dann wird jede Bewegung hin zu Wachstum und freiem Raum verhindert. Mir scheint, dass es keine Alternative dazu gibt Wachstum und Verbundenheit gleichzeitig anzusteuern, was mit dem Embryo im Mutterleib ja ganz von selbst geschieht.
In der craniosacralen Arbeit haben wir verschiedene Möglichkeiten mit diesen Themen zu arbeiten. Es gibt verschiedene Ebenen des Kontakts. Ich kann jemanden mit meiner Berührung Sicherheit vermitteln, wenn er diese braucht. Ich kann einen Patienten aber auch im Gestus der Offenheit halten, so dass er das Gefühl bekommt, sich in den Raum hinein ausdehnen und wachsen zu können. Und dann kann man auch, dazu braucht es allerdings eine ganze Menge Übung, jemanden in einer Art und Weise halten, die Sicherheit vermittelt und den Raum öffnet. Wenn das möglich ist und der Patient dafür offen ist, können wunderbare Dinge in einer Behandlung geschehen.
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